Zeit

Liebe Zeit.

Du bist mein Gebieter, ich dein Untergebener.

In diesem einzigen Moment, der jetzt ist, sogleich war, bin ich ganz bei dir. Innig verkrieche ich mich in deine offenen Arme und lasse mich von dir halten. Tief in mir drin weiss ich, dass du mich nicht fallen lässt. Wie auch? So wie ich an dir hänge, hängst du an mir. Wenn ich gehe, gehst auch du. Dann ist meine Zeit vorbei.

Liebe Zeit, eine Frage drängt sich mir auf. Was geschieht mit dir, wenn du vorbeizieht, nicht mehr bist? Wo gehst du hin? Die Zeit ist abgelaufen, vorbei, vergangen, sagen sie. Aber wohin bist du gelaufen, WOHIN bist du gegangen?

Liebe Zeit, ich glaube nicht, dass du dich plötzlich auflöst und dass du diese unzähligen Momente, die uns Menschen, ja, die ganze Welt umgarnen einfach mit dir in ein dunkles Loch mitnimmst.

Ich sehe, dass du und die Vergänglichkeit ein Bündnis geknüpft habt und sie dich gewissenhaft auf deinem Gang in unser Gestern begleitet.

Sind meine Erinnerungen bloss Spiegelungen dessen was einmal war und du lieber Freund kommst nicht mehr? Ja, du kommst nicht mehr; nicht mehr an meinen ersten Schultag, wohnst nicht meiner Maturität bei, zeigst dich nicht an meiner Hochzeit, traust dich nicht meinem Altern beizuwohnen, küsst mich nicht fürsorglich auf meine Stirn, wenn ich auf meinem Sterbebett liege – bist einfach vorbei. Hinterher entsendest du abermals deine Hirten, die wir Menschen zu Minuten und Stunden, zu Tagen und Jahren zwingen, mit der Absicht dich festzuhalten. Du aber lässt dich nicht festhalten, nein liebe Zeit, du schreitest voran, zuverlässig wie der Orion, der unsere Nacht hütet.

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Liebes Menschenkind

Du lässt es mir warm und kalt werden um mein Herz. Ich weiss um deine Gedanken. Sie hören sich an wie Sorgen. Sorgst du dich um mich oder um dich? Um mich mache dir bitte keine Sorgen, ich bin frei zu kommen und zu gehen, wie es mir behagt. Und um dich…wisse dich gesorgt.

So sehr du und deine Mitmenschen glauben mich festmachen zu können, so sehr vergewissere ich euch, dass ich nicht an Handgelenken oder an Wänden sichtbar werde, noch Kirchenuhren belebe oder den Geist eurer Chronik verkörpere. Dennoch lässt euch dieser Schein Vertrauen schöpfen im kurzweiligen Glauben mir Herr zu sein. Schau her, ich möchte dir etwas zeigen. Jene Erinnerungen, die du durchschreitest, leben mit jeder Hinwendung wieder in dir auf, solange du dies möchtest. Ich nehme dir nichts und ich gebe dir nichts. Suche in mir nicht einen Schuldigen für Vergangenes, noch weniger bezichtige mich deinen Versäumnissen. Was du mit mir machst, ist ganz dir überlassen.

Du hast dich getraut mich zu fragen, wohin ich gehe, wenn ich tagtäglich vorbeiziehe, so soll ich dir behutsam antworten, in dem ich dir eine kurze Geschichte erzähle: Als das prächtige Schiff mit gehissten Segeln seinen Hafen verliess, stand die Menschenmenge am Ankerplatz und nahm Abschied. Ein kleiner Junge hatte sich mit dem Rücken zu den Anderen vom ablegenden Schiff abgewendet. Da fragte ihn einer, „warum winkst du dem Schiff nicht zu, so wie deine Freunde? Möchtest du denn nicht Lebewohl sagen?“. Da hob der Junge seinen Kopf, richtete seine Augen nach oben und schaute dem Mann tief in die Augen, während dem er sagte: „aber Papa, ich möchte doch der Erste sein, der das Schiff erblickt, wenn es wieder auf diesen Hafen zusteuert“.

Vielleicht ist deine Frage des Wohin gar nicht so wichtig, wie du denkst. Zerbrich dir darüber nicht den Kopf. Vertraue. Vertraue mir, dass wenn ich gehe, wenn ich mich verabschiede, dann prall gepackt mit deinen Erlebnissen, mit deinen Erfahrungen, mit deinen Schätzen, die Liebe in allen Farben kundtun und dem Lebensatem Zuwendung versprechen. Gleichwohl entreisse ich dir nichts, denn du hast mich beladen. Liebes Menschenkind, ich bin viel mehr als du vermutest und viel weniger als die Gesamtheit aller Wunder, die uns umgeben. Ich habe weder Anfang, noch Ende. Irgendwo da draussen bin ich dein Orion, bewache ich deine Schätze und bin immer für dich da.