Kinderrechte

Vor Jahren habe ich mit einem Kind gearbeitet, das sich in einer schwierigen Familiensituation wiederfand. Ein Kind, wie manch solch unschuldige Wesen. Wir sprachen über seine Rechte, Rechte, die jedem Kind zustehen. Und heute, Jahre später begegne ich auf wunderliche Weise derselben Kinderseele oder jener eines nahen Gefährten, und bin erneut in Gedanken über Kinder und ihre Rechte versunken. Unversehrtheit, Schutz, Nahrung, Zuwendung, um lediglich ein paar zu nennen. Und ich frage mich, wer entscheidet über das Recht der Kinder? Wer nimmt sich das Recht über das Recht anderer zu entscheiden?

Unsere Blicke treffen sich immer wieder, mal bewegen sich meine Blicke über seine Konturen, erahnen ein Lächeln oder die Runzeln einer gedanklichen Auseinandersetzung oder jenes aufblitzende unscheinbare Blinzeln, das an einen Hauch Lebensfreude erinnert. Im Lichtkegel der Strassenlaterne findet er Zuflucht, dort wo der Schnee leise rieselt, schwenkt sodann zurück in den Raum und schaut mich fragend an. Dabei ist es meine Rolle zu fragen. Aber ist es nicht auch ein Recht des Kindes gehört zu werden? Seine Meinung kundzutun? In seinem Wesen ernstgenommen zu werden? So höre ich zu und lerne aus seinen Fragen, die seine Bedürfnisse, Wünsche und Sehnsüchte verraten. Ich kenne dieses Spiel. Er möchte gesehen werden, er möchte, dass ich ihn errate, und doch will er es auch nicht.

Seine Unsicherheit und ich halten inne. Ich spüre sie. Über die Buchstaben und Worte meines stummen Gesichtsausdrucks versucht nun er zu lesen und raten. So unergründlich seine Verletzungen, dass er von seinen Erfahrungen geprägt, sein Innerstes zu schützen versucht und die Gefahr bahnen möchte noch ehe sie sich ausbildet. Wie mein kurzes Zögern ihn zum Deuten verführt, er Versagen zu ahnen scheint, Ablehnung vermutet, sich qualvolle Gedanken bildet, begleitet von jenem Gefühl, nicht gut genug zu sein, alles falsch zu machen, ja ein Versager, ein ungeliebter Mensch zu sein, ein solcher, der Ursache für Streit sein soll, für das Auseinanderleben jener, die er zutiefst in seine Liebe hüllen möchte. Und dabei bin ich ihm mehr ein Fremder, doch hat sich sein Überleben über die Jahre so verfeinert und eingebrannt, dass er auch in mir nach Signalen sucht, die er in seiner Auffassung zu deuten probiert.

Seine angezogene, rechte Schulter als sie plötzlich an Schwere gewinnt, sich seine Muskeln entspannen. Ich versichere ihm, das alles in Ordnung ist und bestärke ihn darin, dass er gut ist so wie er ist.  Und ich höre immer noch zu. Ich meine zarte Umrisse um seinen Körper wahrzunehmen. Ein seidenes Licht, das so nicht fassbar, nahezu grenzenlos sich anmutet, mit seinem Atem auf und ab, sich zu heben, zu senken scheint. Glaubst du an Engel? Ja antwortet der Junge. Glaubst du an Engel, fragt er mich? Wir schauen uns ungebrochen in des anderen Seele, schweigen, die Zeit entrinnt ihrem fahrigen Treiben. Ja. Vielleicht glaube ich lange keinen Engel mehr gesehen zu haben. Und doch sitzt einer mir direkt gegenüber.

Es ist streng sagt mir das Kind. Ich lächle sanft. Ja, es ist streng. Wenn du hier draussen vor meiner Tür stehen würdest und jedem Kind, dass mein Zimmer verlässt, fragen würdest, so habe ich keine Zweifel daran, dass sie dir zustimmen würden, dass es streng ist. Ich glaube ein jedes Kind hat das Recht Kind zu sein, geschützt zu werden vor einer erwachsenen Welt, der es noch nicht gewappnet, der es noch ausgeliefert ist, dessen Strenge es übermannt. Hier begegne ich seiner Angst immer von neuem, jener, die er mit sich trägt und jedes Mal, wenn er sein Mäntelchen von sich hebt vor meinen Füssen ausschüttet, um einen kurzen Augenblick um Luft zu ringen. Sein Atem stockt, seine Angst ist dicht. Ich kann sie ihm nicht nehmen, ihn bloss auf seinem Weg begleiten, etwas Zuversicht teilen, Hoffnung wecken. Bloss ihn bestärken. Bloss an ihn glauben. Ich bin froh, dass er an Engel glaubt.